Nicht erst seit „Charlie Hebdo“: Die tägliche Schere im Kopf

Die grausamen Attentate von Paris habe uns alle tief erschüttert. Da tut es gut, wenn am Sonntag weltweit Millionen Menschen auf die Straße gehen und damit signalisieren, dass wir Werte wie Meinungsfreiheit und Toleranz nicht aufgeben werden. Doch schon mit der am Mittwoch erschienenen neuen Ausgabe von „Charlie Hebdo“, die wieder einmal den Propheten Mohammed auf dem Titelbild zeigt, wurden erste kritische Stimmen laut. Ist das bereits die aus Angst geborene berühmte „Schere im Kopf“? Nehmen wir selbst die so eindringlich beschworene Meinungsfreiheit überhaupt so konsequent wahr oder ist (vorauseilende) tägliche Selbstzensur nicht eigentlich ein viel größeres Problem? Wollen wir überhaupt, dass jeder ungehindert seine Meinung äußern darf?  

Im Zusammenhang mit der Veröffentlichung von Mohammed-Karikaturen einer dänischen Zeitung sprachen viele in Deutschland, nachdem es massive anti-dänische Ausschreitungen in der arabischen Welt und Morddrohungen gegeben hatte, von einer Rücksichtnahme auf religiöse Gefühle. Hätte dies keine Wirkung bei Journalisten, aber auch uns allen gehabt, so dürfte sich jemand wie Springer-Vorstand Matthias Döpfner derzeit nicht bemüßigt fühlen, so vehement dafür einzutreten, sich jetzt nicht auch unbewusst einschränken zu lassen. Er hat allerdings auch in unseren gewohnten christlichen Gefilden allen Grund dazu, wie die Weigerung des WDR, ein kirchenkritisches Video der Kölner Kabarettistin Carolin Kebekus zu senden, gezeigt hat. (Drohende) Repressive Maßnahmen, besonders wenn sie existenzielle Ängste auszulösen imstande sind, haben eben immer eine Wirkung…

Karikaturen und andere Formen der freien Meinungsäußerung haben aber eben auch immer eine Wirkung. Dass dabei im Einzelfall auch, um im Kontext zu bleiben, religiöse Gefühle beeinträchtigt werden, ist ebenso zwangsläufig wie unvermeidbar. Wieso diese aber in einem pluralistischen säkularen Staat mehr Aufmerksamkeit und Schutz als die Gefühle anderer Menschen oder Gruppen genießen sollen, ist nicht nachvollziehbar. Wie sollte die geforderte Rücksichtnahme überhaupt aussehen und wie weit muss sie gehen?

Muss sie soweit wie in den von der islamistischen IS eroberten Gebieten gehen, wo alle Zeichen christlichen Glaubens geschleift werden? Muss sie soweit gehen, dass Muslime in Deutschland keine Moscheen mit weithin sichtbaren Minaretten bauen dürfen? Und was ist mit den Gefühlen von Buddhisten oder Atheisten und Agnostikern? Müssen wir nicht auch dort beeinträchtigte Gefühle vermuten, wenn diese im Stadtbild Kirchtürme entdecken und ihnen das arrogante Glockenläuten höhnisch in den Ohren dröhnt: „Wir haben hier das weltanschauliche Sagen!“?

Als Kleinkinder erleben wir uns noch als Eins mit einer höheren, uns versorgenden und beschützenden Macht, der Mutter. Dies brauchen wir für unser Überleben. Später sucht unser Gehirn weiter nach Mustern und Ähnlichkeit, da es bei wiederkehrenden Mustern annimmt, dass der Inhalt von Bedeutung ist, und bei Ähnlichkeit zum einen kognitive Leichtigkeit in der Informationsverarbeitung erfährt und zum anderen die Ähnlichkeit zu bestätigen scheint, dass das Eigene ja nicht so falsch sein kann.

Auch wenn unser Unbewusstes und unsere Gefühle es uns also nicht leicht machen, so ist es doch ein Kennzeichen von Erwachsensein, Unterschiedlichkeit aushalten zu können. Schlau ist der, wer die Unterschiedlichkeit sogar als Vorteil begreift und sie zu nutzen versteht, denn er hat verstanden, dass jeder für sich allein doch recht blind ist, da wir immer nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit wahrnehmen können. Weise ist, wer Äußerungen von Unterschiedlichkeit eine gewisse Gleich-Gültigkeit entgegenbringt, wer dem eigenen die gleiche Bedeutung/Wichtigkeit/Gültigkeit beimisst wie dem von diesem oder jenem, und sich Bewertungen, also z.B. Aufwertungen des eigenen und Abwertungen des anderen einfach mal (er-)spart.

Was hat das mit dem Thema dieses Blogs zu tun? Ich will Ihnen eine kleine Geschichte erzählen, ungefähr so erlebt in der entfernteren Familie:

Der Schwager meines Onkels ist Unternehmer und ein nicht unbedeutender Arbeitgeber in seinem Ort. Sein Sohn arbeitet im Betrieb mit, ist also der Junior-Chef. Da er weiß, mit welchem Themenfeld ich mich beruflich beschäftige, erzählte er auf einem Spaziergang voller Empörung, dass es eine frisch von der Uni kommende neue Mitarbeiterin vor Weihnachten „gewagt“ hatte, ihrem Arbeitgeber mitzuteilen, dass sie den bereits genehmigten Winterurlaub in Bildungsurlaub umwandeln wolle und ihn aufforderte, diese Umwandlung schriftlich zu bestätigen sowie die Tage auf ihrem Erholungsurlaubskonto gut zu schreiben. Meine spontane Reaktion „Die Frau ist anscheinend gut informiert“ trug nicht wirklich zur Beruhigung bei. Es kamen dann noch Äußerungen wie „So eine Unverschämtheit, als ob sie uns misstrauen würde!“, „Wir halten uns an alle Gesetze und zahlen sogar über Tarif“ und „Wie gut, dass die nicht da war, als ich das erfahren habe. Die hätte ich so dermaßen zusammengefaltet…“. Der Einwand, dass die neue Mitarbeiterin vielleicht noch nicht so mit den betrieblichen Gepflogenheiten vertraut war, erzeugte nur ein kurzes Innehalten, die grundsätzliche Ablehnung des Verhaltens der Mitarbeiterin war nicht aufzulösen.

Es ist davon auszugehen, dass die junge Mitarbeiterin auf die eine oder andere Weise mitbekommen haben wird, dass der Junior-Chef wegen ihrer Urlaubsgeschichte sauer auf sie war. Wenn ich mir jetzt aber vorstelle, welche mittel- und langfristigen Auswirkungen dieser Vorfall hat, dann wird mir ziemlich komisch. Und ich weiß nicht, welche der zwei Hauptentwicklungsrichtungen ich schlimmer finde: Zum einen könnte sich die Mitarbeiterin darin bestätigt fühlen, misstrauisch gegenüber dem Arbeitgeber zu sein. Vielleicht ist sie ja auch richtig empört darüber, dafür, dass sie ihr gutes Recht wahrnimmt, in Ungnade zu fallen. Langfristig dürfte eine echte Arbeitgebergegnerin entstehen.

Zum anderen könnte eine simple Schmerz-Konditionierung erfolgen: „Wenn ich für mich eintrete, wenn ich meine Rechte wahrnehme, wenn ich meine Sichtweise darstelle, werde ich dafür abgestraft.“ Die Auswirkungen bei einer jungen, noch unfertigen Persönlichkeit wären fatal, denn es ist bei uns eine wesentliche Kulturtechnik, sich und seine Meinung ver- und für seine Interessen und Rechte eintreten zu können. Lebenstüchtigkeit wird so nicht erzeugt.

Diese „Geschichte, wie sie das Leben schrieb“ korrespondiert mit unseren Beobachtungen von Arbeitnehmer- und Betriebsratsverhalten. Wir erleben recht häufig, dass diese sich aufwändig und recht heftig über den Arbeitgeber, die Kollegen, die Arbeit usw. beschweren, wenn wir ihnen dann jedoch erzählen, was sie alles tun könnten, welche Rechte sie haben, um die Situation in ihrem Sinne zu verändern, dann verpufft die vorherige Energie schlagartig. Dann kommen Sätze wie „Das gibt nur Ärger mit den Kollegen.“, „Das kann ich niemals so sagen.“, „Ach, es läuft doch eigentlich ganz gut bei uns, ist gar nicht so schlimm.“ oder „Was können wir schon erreichen.“

Tata, da ist sie mal wieder, die berühmte Schere im Kopf. Aus Angst vor Nachteilen bis hin zur Kündigung wird vorauseilende Selbstzensur betrieben. Oft erlauben es sich die Betroffenen noch nicht einmal, der Beschwerde eine Beschreibung des von ihnen eigentlich gewünschten Zustands folgen zu lassen. Die Stille, die dann meistens eintritt, ist grausamer Gradmesser für die erschreckende Mut- und Phantasielosigkeit, die mit starken Glaubenssätzen der Selbstzensur einher geht. Die eigenen Belange, Interessen, Motive, Werte und Überzeugungen scheinen sehr viel weniger wichtig zu sein, weniger Respekt und Beachtung zu verdienen, als die der bzw. des anderen.

Dabei spielt uns unser Gehirn wieder mal einen Streich: Ebenso, wie wir dazu neigen, dass Ausmaß und die Dauer des durch einen Lotto-Gewinn eintretenden Glücks zu überschätzen, neigen wir dazu, dass mit einer schwierigen Situation einhergehende mögliche Unglück zu übertreiben. Diese Kompetenz-Illusion (wir glauben, anhand weniger Informationen wie früheren Erfahrungen und gelernten Glaubenssätzen, eine sichere Annahme über die Zukunft stellen zu können) bringt uns ebenso zu irrationalen Handlungen wie es uns in irrationaler Weise von Handlungen, wie z.B . Meinungsäußerung, abhält.

Dass wir im Arbeitsleben von freier Meinungsäußerung besonders weit entfernt sind, ist ja auch so gewollt. Anders lässt sich z.B. die Rechtsprechung u.a. zu den Loyalitätspflichten des Arbeitnehmers gegenüber seinem Arbeitgeber nicht verstehen. Die zugrunde liegende hierarchische Denkweise („Ich hier oben habe nicht nur Macht und Herrlichkeit, sondern weiß auch qua Position, was richtig ist.“) schwitzen leider auch viele Arbeitgeber und Vorgesetzte, allen wohlklingenden Bekundungen zum Trotz, durch alle Poren aus und verhalten sich dementsprechend widersprüchlich.

Was natürlich nicht ohne Wirkung bleibt: Die oben beschriebenen Reaktionen führen letztlich zu einer realen Top-Down-Kultur, die die Menschen an der Spitze der Pyramide allmählich erblinden lässt, ohne dass sie es merken. Wir KÖNNEN schließlich immer nur einen Ausschnitt der Realität wahrnehmen und nur durch die Beiträge von anderen kann dieser blinde Fleck kleiner werden. Wer aber systembedingt (teil-)blind ist, macht systembedingt auch mehr und schwerere Fehler.

Eine Gesellschaft, die kulturell bedingt trotz nomineller Meinungsfreiheit eine große und aktive Schere im Kopf erzeugt, läuft daher Gefahr, ebenso wenig Realität wahrzunehmen (besser: wahrnehmen zu wollen), wie eine Gesellschaft, die sich, aufgrund welcher Lehre und Überzeugung auch immer, im Besitze DER „Wahrheit“, der einzig (oder immerhin besten) möglichen Sichtweise auf die Realität wähnt. Es fühlt sich halt nur irgendwie besser, aufgeklärter, wissender, moderner an.

Wir als westlich-„aufgeklärte“ Gesellschaft dürfen also nicht glauben, z.B. den Islamisten in unserer Denkweise sonderlich weit voraus zu sein. Klar, wir enthalten uns mittlerweile barbarischer Terrorakte, aber wenn einer mal unsere Sichtweise nicht teilt, dann setzen wir eben unsere Wirtschaftsmacht gegen arme mittelamerikanische Länder ein, verteidigen unsere „Freiheit“ auch am Hindukusch mit Waffengewalt gegen Andersgläubige, halten Frauen aus Kirchenämtern und Führungsetagen fern, werten die Sorgen verängstigter Bürger als „ekelhaft“ ab und drohen Arbeitnehmern und Betriebsräten mit Entlassungen und damit Arbeitslosigkeit.

Wir haben noch einen weiten Weg bis zu einer wirklich offenen Gesellschaft mit einer als förderlich empfundenen Meinungsvielfalt zu gehen. Und dieser Weg beginnt bei jedem einzelnen von uns, ob Arbeitgeber, Arbeitnehmer oder Betriebsrat, mit der Frage,wieso es denn eigentlich so schwer fällt, Andersartigkeit in Hautfarbe, Geschlecht, Überzeugung, Sichtweise, Interessen und Meinung auszuhalten. Und warum wir so wenig Mut haben, uns mit unseren Sicht- und Denkweisen anderen, vielleicht mächtigeren, zuzumuten.

Gerade Betriebsräte könnten hier aufgrund ihrer unabhängigen Position vorangehen und wenn nicht für einen Lern-, so doch für einen Gewöhnungs- und Abhärtungseffekt zu sorgen. Wir sterben schon nicht durch die „kalte Dusche“ des Ungleichheitserlebens.

 

P.S.: In der oben beschriebenen Szene mit dem Bildungsurlaub fällt dem externen Beobachter ja sofort auf, dass es sehr schnell gar nicht mehr um die eigentliche Sache, nämlich Bestätigung der Umwandlung und die Gutschrift auf dem Urlaubskonto, geht. Stattdessen geht es um Gefühle wie fehlende Wertschätzung für das eigene vorbildliche Verhalten, Vertrauensverlust, Angriff auf das Ansehen. Hier (und natürlich in allen anderen Situationen, in denen man sich über jemanden ärgert) wären ggf. ein paar Merksätze des Selbstmanagements in Konflikten hilfreich gewesen:

  • Worum geht es mir hier eigentlich wirklich?
  • Für das Ausmaß meines Ärgers bin ich selbst verantwortlich, der andere ist nur der Auslöser.
  • Wie kann ich sicher wissen, dass der andere mir Ärger bereiten wollte?
  • Ich selbst bin es, der der Äußerung des anderen ihre Bedeutung gibt.
  • Was brauche ich vom anderen, um sein Ansinnen gut nehmen zu können?
  • Der andere hat nur die Macht über mein Wohlbefinden, die ICH ihm zubillige.
  • Welche guten Gründe könnte der andere für sein Verhalten haben, das ich leider immer noch total doof finde.

 

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