Stressreport 2012: Reduzierung von Belastungen durch umfassendes Konfliktmanagement, Teil 1

von Mediator und Coach Sebastian Schoberansky

Stressbelastungen lassen sich frühzeitig reduzieren, wenn ALLE im Betrieb lernen, besser für sich und miteinander zu streiten. Dann klappt´s auch mit dem Erhalt von Gesundheit und Produktivität.
oder
Die vor-gelebte Konfliktkultur legt den Grundstein für guten oder schlechten Stress.  

 

Eine kleine Geschichte zum Thema: Auf der Feier zum 20-jährigen Abitur meines Jahrgangs kam es nach dem üblichen „Und was machst Du beruflich?“ zu einer denkwürdigen Szene mit einem Klassenkameraden, den ich seit der zweiten Klasse kenne. Nachdem er mitbekommen hatte, dass ich als Mediator und Coach auch mit Führungskräften arbeite, erzählte er mir unvermittelt, dass er einen neuen Mitarbeiter in der von ihm geleiteten Abteilung habe, der immer nur an seinem Arbeitsplatz sitze und mit niemandem, also auch nicht mit ihm als Vorgesetztem, spreche. Abschlussbemerkung meines Klassenkameraden: „Aber ich werde einen Teufel tun und zu ihm gehen. Schließlich will er ja was von mir!“ 

Auf meine leicht erstaunte Frage, wie er denn die Arbeit in seiner Abteilung organisiere, wenn er mit dem Kollegen nicht spreche, riss er zunächst die Augen auf und antwortete dann: „Er kann jederzeit zu mir kommen, wenn er ein Problem hat.“

Einige von Ihnen werden wohl bei der Lektüre dieser Geschichte den Kopf geschüttelt haben und ich bin mir sicher, dass vielen von Ihnen weitere Beispiele für „entwicklungsfähiges“ Führungsverhalten aus dem eigenen Berufsleben einfallen.

Doch was hat das mit dem am 29.01.2013 veröffentlichten Stressreport Deutschland 2012 und vor allem umfassendem Konfliktmanagement zu tun?

Der Stressreport 2012 hat durch verschiedene Kriterien die Belastung der Arbeitnehmer ermittelt. Anhand der Spitzenreiter unter den Kriterien (Ziff. 6, S. 164) werden wir die Verbindung zum sozialen Konflikt aufzeigen:

„verschiedenartige Arbeiten gleichzeitig betreuen“: Die Arbeitsorganisation erfolgt auf Basis von Grundsatzentscheidungen des Managements und/oder durch den Vorgesetzten vor Ort. Dem können individuelle Multitasking-Fähigkeiten, Vorstellungen von Sorgfalt und Qualität sowie der Wunsch nach Konzentration und Fokussierung entgegenstehen.

„starker Termin- und Leistungsdruck“: Vorgaben können durch externe Dritte wie interne Stellen (Vorgesetzte, Arbeitsgruppenentscheidung) erfolgen. Dem können eigene Vorstellungen zur zeitlichen, mengenmäßigen und fachlichen Bewältigbarkeit, Grad der individuellen Druckresistenz sowie außerberufliche Anforderungen und Interessen entgegenstehen.

„bei der Arbeit gestört, unterbrochen“: Die Störung wird entweder direkt durch eine oder mehrere Personen oder durch von Dritten gestaltete organisationale Abläufe erfolgen. Dem können Vorstellungen von Sorgfalt, Gründlichkeit und Qualität sowie der Wunsch nach Fokussierung und In-Ruhe-gelassen-werden entgegenstehen.

„ständig wiederkehrende Arbeitsvorgänge“: Erforderliche Arbeitsvorgänge ergeben sich aus dem vom Arbeitgeber definierten Unternehmenszweck, die Zuteilung der einzelnen Arbeiten erfolgt durch Vorgesetzte. Dem kann das natürliche Bedürfnis nach Abwechslung und Anregung entgegenstehen.

„sehr schnell arbeiten müssen“: Takt- und Tempovorgaben können durch externe Dritte sowie interne Vorgesetzte und die Arbeitsaufgabe an sich erfolgen. Dem können individuelle Vorstellungen von Qualität und Gründlichkeit sowie eigenes Geschwindigkeits- und Belastungsempfinden entgegenstehen.

„detailliert vorgeschriebene Arbeitsdurchführung“: Vorgaben können durch einen externen wie auch internen Auftraggeber sowie durch die Arbeitsaufgabe selbst in einem begrenzten Tätigkeitsfeld erfolgen. Dem können der Wunsch nach Handlungs- und Gestaltungsspielräumen sowie eigene Ideen und Vorstellungen zur Tätigkeit wie zum Produkt entgegenstehen.

„fehlende Hilfe und Unterstützung durch den direkten Vorgesetzten“: Der Mangel kann durch bewusste Verweigerung oder unbewusste Unachtsamkeit entstehen. Dem steht der Bedarf an fachlicher Unterstützung sowie der Wunsch nach Richtungsweisung, Sinngebung und Wertschätzung entgegen.

„fachliche und mengenmäßige Überforderung“: Arbeitsinhalte sowie -mengen werden durch das übergeordnete Management und/oder den Vorgesetzten definiert. Dem können das individuelle Kompetenzprofil, Leistungsvermögen und der Wunsch nach angemessener Herausforderung entgegenstehen.

Allen Kriterien ist gemeinsam, dass der Arbeitnehmer eine Beeinträchtigung in seinem Wahrnehmen, in seinem Denken/Vorstellen/Interpretieren, in seinem Fühlen und in seinem Wollen durch einen meist ziemlich genau von ihm zu benennenden Dritten erfährt. Der soziale Konflikt ist da!

Doch wie kann das ein Konflikt sein, wenn es doch oftmals noch gar nicht „gekracht“ hat?

Ausgangspunkt unserer Überlegungen ist die vom Konfliktforscher Friedrich Glasl entwickelte Definition eines sozialen Konflikts:

Ein sozialer Konflikt ist eine Interaktion zwischen Parteien,

wobei wenigstens eine Partei

Differenzen im Wahrnehmen   und im Denken/Vorstellen/Interpretieren   und im Fühlen   und im Wollen

mit der anderen Partei in der Art erlebt,

dass beim Verwirklichen dessen, was die Partei denkt, fühlt oder will,

eine Beeinträchtigung

durch die andere Partei erfolgt.

Eine Meinungsverschiedenheit ist demnach nicht schon ein Konflikt, denn es kommt darauf an, wie mindestens eine der beiden Parteien den Konflikt empfindet. Gleichzeitig müssen sich nicht beide Parteien über den „Konfliktstatus“ einig sein, denn es reicht für das Vorliegen eines sozialen Konfliktes aus, wenn nur eine Partei die Auseinandersetzung als Konflikt im obigen Sinne empfindet (Äußerungen wie „Wir haben hier keine Konflikte miteinander“ oder „Also iiich habe kein Problem mit Dir/damit“ springen demnach zu kurz).

Ein Problem wird dann zum Konflikt, wenn seine Lösung zum Problem wird.

Andererseits muss das Erleben einer Beeinträchtigung noch kein besonders gravierendes Problem darstellen, weder für den Arbeitnehmer, noch für die Führungskraft, noch für den Betrieb. Denn interessanterweise sind wir alle in der Lage, eine enorm große Zahl an täglichen sozialen Konflikten (also Beeinträchtigungen der genannten Art durch einen Anderen) auf zumeist recht zufriedenstellende Art zu bearbeiten und einer mehr oder minder tragfähigen Lösung zuzuführen.

In der Arbeitswelt scheinen diese Konfliktlösungsfähigkeiten den Beteiligten jedoch nicht so leicht zugänglich zu sein, denn nur durch ihre Abwesenheit oder Nichtanwendung lässt sich erklären, wie Beeinträchtigungen zu den vom Stressreport beschriebenen Belastungen werden können. Bestünde für die Beteiligten die Möglichkeit zu einer befriedigenden win-win-Lösung, wäre die Belastung durch die Beeinträchtigung zeitlich und/oder in ihrem Ausmaß so stark begrenzt, dass keine signifikant erhöhten Werte zustande kämen.

 

Wie kann betriebliches Konfliktmanagement dazu beitragen, die vom Stressreport ermittelten Belastungen zu vermindern?

Wer bei Konfliktmanagement zunächst nur an strukturelle Veränderungen wie Einrichtung und Nutzung von Konfliktlotse, innerbetriebliche Schlichtungsstelle, ständige Einigungsstelle und einem bereitstehenden externen Mediator denkt, dem muss gesagt werden: fast nichts!

Auch wenn es gut ist, für den Ernstfall eine Feuerwehr bereit zu halten, so muss doch dem sozialen Brandschutz, sprich der Prävention absolut der Vorrang eingeräumt werden, denn davon hat nicht nur der Betrieb, sondern auch der Betroffene am meisten.

Am Beispiel der Führungskräfte kann sehr gut das zugrundeliegende Problem verdeutlicht und zugleich die zu präferierende Ansatzmöglichkeit aufgezeigt werden:

Der Stressreport zeigt zum einen auf, dass der deutsche Vorgesetzte im Vergleich der EU-27 seinen Untergebenen deutlich weniger Unterstützung zukommen lässt (Ziff. 6, S. 165), zum anderen ist die Umsetzung von gesundheitsförderlicher Führung trotz vorhandenen Wissens verbesserungsbedürftig. Es besteht offenbar ein Zusammenhang zwischen den eigenen Arbeitsbedingungen und der Art der Führung.

Führungskräfte an der Schnittstelle zwischen Richtungsentscheidungen und praktischer Umsetzung sehen sich Konfliktpotential an zwei massiven Fronten ausgesetzt. Allzu häufig wird dabei der intrapersonale (innere) Konflikt aus dem Dilemma zwischen Anspruch und Realität hierarchisch gelöst: Anpassung und Verschleierung nach oben, Weitergabe des Drucks nach unten. Durch die Vermeidung des interpersonalen (äußeren) Konflikts mit Oben bleibt die von dort kommende Beeinträchtigung erhalten und wächst sich zur vom Report beschriebenen Belastung aus, die sich auch noch dynamisch entwickeln dürfte, denn es fehlt ja an dem korrigierenden Feedback über die Beeinträchtigung. Die Weitergabe des Drucks nach unten führt zu einer Vielzahl von weiteren intra- und interpersonalen Konflikten (je nach Umgangsweise der Untergebenen), die über kurz oder lang zum Vorgesetzten zurückkommen und ihn erneut erneut vor das Anfangsproblem stellt. Verfährt er wieder nach dem bekannten Muster, ist der Einstieg in eine Abwärtsspirale für ihn selbst und den von ihm geführten Bereich vollzogen.

 

Also Prävention – aber wie?

Alle Maßnahmen, gleich ob präventiv oder konfliktbearbeitend, können nur in einer entwickelten betrieblichen Konfliktkultur greifen. Da die betriebliche Kultur maßgeblich von Vorstellungen, Maßnahmen und nicht zuletzt Vorbild der obersten Führung abhängt, ist die Veränderung der Konfliktkultur auch darauf angewiesen, dass sie von der obersten Führung eingeführt, unterstützt und vorbildhaft gelebt wird.

Eine kritische Hinterfragung des eigenen bewussten wie unbewussten Führungsverhaltens, hier insbesondere natürlich des individuellen Konfliktverhaltens, ist für die Führung unabdingbar. Anschließend muss die Frage beantwortet werden, ob die Veränderungsbereitschaft nicht nur für die betriebliche Kultur, sondern auch für das eigene Verhalten besteht und ob man für die notwendigen begleitenden Maßnahmen mit den entsprechenden Experten offen ist.

Erst wenn diese Fragen positiv beantwortet werden konnten, kann sinnvoll über die gewünschte Konfliktkultur im Betrieb sowie die zu ergreifenden Maßnahmen nachgedacht werden. Besonders wertvoll und nachhaltig ist es, wenn alle Beteiligten unter Anleitung eines allparteilichen Dritten an der Erarbeitung der gewünschten Konfliktkultur partizipieren können.

 

Lesen Sie im nächsten Teil, welche betrieblichen Kulturen hohe Stressbelastungen hervorbringen, wie eine belastungsarme und produktive Konfliktkultur aussehen kann und was die Beteiligten für den Betrieb und für sich selbst tun können.

 

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