Eins vorweg: Man muss keine roten Socken tragen, um in Gewerkschaften einen wichtigen Mitspieler bei der Ausbalancierung der Kräfteverhältnisse in unserer Arbeitswelt zu sehen. Es reicht völlig aus, mit beiden Beinen sicher auf unserem Grundgesetz zu stehen und anzuerkennen, dass auch andere Menschen ihre gesetzlich verbrieften Rechte wahrnehmen dürfen. Womit wir schon beim Guten im Schlechten des GDL-Streiks wären.
Im März diesen Jahres fand im Rechtshaus der Universität Hamburg eine Veranstaltung zum geplanten Tarifeinheitsgesetz statt. Dabei war das Podium prominent besetzt: neben hochrangigen VertreterInnen des DGB, des Marburger Bundes und eines Arbeitgeberverbandes saßen der ehemalige Bundesinnenminister Gerhard Baum (FDP) und der GDL-Vorsitzende Claus Weselsky.
Eingeleitet wurde die Veranstaltung von Prof. Jacobs von der Bucerius Law School mit einer verfassungsrechtlichen und auch praktischen Würdigung des geplanten Gesetzes, die zu einem ebenso eindeutigen wie auch für den rechtlichen Laien auf der Hand liegenden Schluss kam: Das geplante Gesetz ist verfassungswidrig und im betrieblichen Alltag schlichtweg nicht praktisch umsetzbar. Gerhard Baum hat daher auch schon die entsprechende beim Verfassungsgericht einzureichende Klage in Vorbereitung.
Man wollte es kaum glauben, doch selten waren sich die Verteidiger von Arbeitnehmergrundrechten und ein ranghoher Repräsentant der FDP so nahe! Das war allerdings auch jenseits der rechtlichen Betrachtungsweise nicht sonderlich schwer. Im Gegensatz zu weit verbreiteten Wahrnehmung in der Bevölkerung über die Medien, erwiesen sich die Vertreter der „Spartengewerkschaften“ als äußerst schlüssig argumentierend und damit hochgradig überzeugend. Insbesondere Claus Weselsky, der, um es mit den Worten eines unserer Teilnehmer zu sagen, „im Fernsehen gar nicht geht“, erwies sich als ein ebenso kompetenter wie lebendig erzählender Diskutant.
Dagegen wirkten die Vertreterin des DGB ebenso wie der des Arbeitgeberverbandes merkwürdig aus der Zeit gefallen: hier ideologisch eingefärbte Kampfparolen, dort die passenden Urteile mit kaltem Oberlehrerzynismus vorgetragen. Das sich bei den Zuhörern breitmachende Unwohlsein wird auch darin seine Ursache gehabt haben, dass die Argumente nicht nur eine merkwürdige Abgehobenheit (vom Grundgesetz) erkennen ließen, sondern ein Denken in einem jeweils ganz eigenen Kosmos, das sich vorrangig um den Erhalt der eigenen Machtposition bemüht.
Klare Punktsieger dieser Veranstaltung: Prof. Jacobs, Gerhard Baum und vor allem Claus Weselsky. Warum? Es ist immer gut, wenn die eigenen Motive auf einer soliden Wertebasis stehen, in diesem Fall auf unserem wirklich grandiosen Grundgesetz. Dagegen fällt dann das verschwurbelt Bemühte des nur unzulänglich bemäntelten Versuchs des reinen Machterhalts um so deutlicher auf. So gesehen hieß der eigentliche Sieger Grundgesetz.
Was heißt das für den jetzigen Streik und unseren Umgang damit?
Es ist schon erstaunlich, wie bereitwillig Menschen entweder anderen Menschen die Wahrnehmung ihrer gesetzlich verbrieften Rechte absprechen wollen, oder aber gleich selbst in einer merkwürdigen Art des vorauseilenden Gehorsams nicht nur darauf verzichten, sondern diese Rechte sogar als unzeitgemäß abqualifizieren. Wir erleben es immer wieder, dass mühsam erkämpfte Arbeitnehmerrechte als störend bezeichnet werden – von Arbeitnehmern, sogar von Betriebsräten!
Was diese jedoch scheinbar vergessen haben: Dieses Niveau von guter Bildung für alle Schichten, zu materiellem Wohlstand auf breiter Basis führenden akzeptablen Löhnen, Berufswahlfreiheit, Zeit für Familie und Freizeit, sozialer Absicherung und und und wurde den Arbeitnehmern keinesfalls geschenkt. Wir sitzen letztlich alle auf den Schultern derjenigen, die (in einigen Teilen der Welt sogar unter Einsatz ihres Lebens) für eine Verbesserung der Situation der Arbeitnehmer durch Teilhabe an der erwirtschafteten Wertschöpfung gekämpft haben. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben das noch gewusst, deswegen haben wir die Vereinigungsfreiheit und letztlich das Streikrecht. Und unser allgemeiner Wohlstand zeigt, dass wir damit nicht schlecht gefahren sind.
Wären wir, die wir genervt auf die GDL zeigen, selbst überhaupt bereit, auf solche Errungenschaften wie Meinungsfreiheit, Schutz der Privatsphäre, Kündigungsschutz, Mindesturlaub, Versammlungsfreiheit, Koalitionsfreiheit, Gesundheitsschutz, Kranken- und Rentenversicherung usw. zu verzichten? Nein? Weil es nunmal unser GUTES RECHT ist? Eben!
In den USA gibt es in einigen Bundesstaaten starke Gruppierungen, die den Staat möglichst komplett aus ihrem Leben heraushalten wollen. Was viele dieser Hinterwäldler jedoch nicht bemerken, ist, dass sie bereits jetzt vieles nutzen, was es ohne ein dies alles ermöglichendes System „Staat“ so gar nicht gäbe. Sie betreiben offen ein naives „cherry picking“ in dem Glauben, die Vorteile würden ihnen ganz natürlich zustehen, während sie die immer mit einem Positivum verbundenen negativen Teilaspekte raushalten könnten.
Ja, Streiks im Bereich der Daseinsvorsorge wie hier Verkehrsinfrastruktur sind unglaublich unbequem und nerven. Das hätten wir uns alles ersparen können, wenn wir nicht Regierungen gewählt hätten, die im Sinne er Ökonomisierung auch dieses bisher öffentlichen Bereiches Wasser- und Stromversorgung, Bahn, Telekommunikation usw. privatisiert hätten. Aber wir wollten ja unseren Wohlstand noch weiter mehren, unsere Fonds sollten noch mehr Rendite abwerfen, dafür muss man halt auch auf diese Werte zugreifen können. Dumm nur, dass man, siehe obige amerikanische Hinterwäldler, immer auch einen Preis für einen Vorteil zahlen muss. Diesen Preis aus Nachteilen oder negativen/unerwünschten Auswirkungen (wie auch immer man das nennen will) haben wir, je pluralistischer und komplizierter unsere Welt wird, zwar immer weniger direkt vor Augen, wir spüren ihn kaum noch und haben tolle Strategien entwickelt, seine Existenz zu verleugnen, aber er ist nunmal da! Vielleicht nicht hier, vielleicht nicht heute, aber je mehr wir vernetzt sind, desto eher kommt er in diesem System zu uns zurück.
Wer aber über den Stau klagt, in dem er steht oder stand, klagt letztlich über sich selbst, denn er IST der Stau, zusammen mit allen anderen sich darüber beklagenden Autofahrern. Die vielen Klagen über die GDL haben dieselbe Hintergrundfarbe.
Noch zwei weitere Phänomene sind bemerkenswert:
Meine Schwester hat vor etlichen Jahren Teilzeit angestrebt und dies auch vorher mit ihren KollegInnen besprochen. Viele fanden das ganz toll, etliche bekamen ganz leuchtende Augen, weil sie das auch gerne für sich hätten. Als das Teilzeitersuchen dann durch war, wurde sie dafür, dass sie ihr Anliegen tatsächlich realisiert hatte, massiv von ihren „KollegInnen“ angefeindet. Was ihr denn einfiele, das sei ja unsolidarisch.
Dabei hat sie doch nur die Initiative ergriffen und ein gesetzlich verbrieftes Arbeitnehmerrecht geltend gemacht. Das hätten die anderen ja auch tun können! Muss die GDL also deswegen so viel Unmut ertragen, weil ihre Mitglieder, im Gegensatz zu vielen anderen Arbeitnehmern, die viel meckern und nichts tun, ihren „Hintern hochkriegen“ und gemeinsam ihre grund- und tarifvertragsgesetzlichen Rechte ausüben, die GDL also das macht, wofür Gewerkschaften nunmal da waren und da sind? Prasselt da nur der Neid derjenigen hernieder, die selber nicht genug A….. in der Hose haben, um sich für ihre Rechte und Interessen einzusetzen? Wenn ja, dann erfüllt die GDL eine wichtige gesellschaftlichen Funktion, denn es kann auf Dauer einem System nicht gut tun, wenn seine Mitglieder so schlaff und eingelullt sind, dass sie jede Störung ihrer Wohlfühltrance abwehren müssen.
Zweites Phänomen: Die Bahn präsentiert sich gegenüber GDL und Öffentlichkeit immer als gesprächsbereit. Das ist grundsätzlich lobenswert und auch geschickt. Leider scheint es jedoch so zu sein, dass man viel redet, aber wenig Konkretes dabei herauskommt. Diesen manipulativen Verhandlungstrick kennen wir auf betrieblicher Ebene von beiden Seiten, von Arbeitgebern wie von Betriebsräten.
Leider zeigt die Praxis, dass sich die anwendende Seite damit zwar eine gewisse Verschnaufpause verschafft, dass aber, wenn der erleidenden Seite irgendwann ein Licht aufgeht und der Kragen platzt, deren Reaktion um so heftiger ausfällt. Meist kann das dann (streitig) erzielte Ergebnis nicht den durch das „Spiel auf Zeit“ erzielten Gewinn rechtfertigen, der tatsächliche Verlust ist in der Gesamtbetrachtung deutlich höher.
Wir raten daher immer, dieses Spiel nicht sonderlich lange mitzuspielen, sondern frühzeitig durch deutliche Signale und Handlungen die notwendige Kooperationsbereitschaft zu erzeugen. Denn hier wie dort leiden immer die unbeteiligten Dritten am meisten unter diesen Spielchen.
Fazit: Bahn UND GDL tragen Verantwortung für den gegenwärtigen Zustand und damit auch für die Abschaffung desselben durch das Erzielen einer Einigung. Das von einigen Medien (N24!) befeuerte „GDL-Bashing“ ist nicht nur einseitig und billig, sondern trägt auch dazu bei, dass die Wahrnehmung von (Arbeitnehmer-)Rechten weiter diskreditiert und damit für alle Arbeitnehmer (und ist das nicht die Mehrheit der Bürger?) in Zukunft erschwert wird. Um der Fortentwicklung unserer Gesellschaft willen dürfen wir unsere Grundrechte nicht einschränken, bloß weil es mal unbequem wird. Therapeuten sagen auch: „Wo der Schmerz ist, ist der Weg der Entwicklung.“
Oder um es mit Gerhard Baum zu sagen: „Unser Grundgesetz bewährt sich immer dann, wenn es besonders weh tut.“