Kuschelkulturen: Wenn Gutes lähmt

von Mediator und Coach Sebastian Schoberansky

In letzter Zeit bin ich mit einigen Betrieben in Kontakt gekommen, die auf den ersten Blick eine ausgesprochen freundliche, ja familiäre Umgangskultur erkennen ließen. Als unvoreingenommener Besucher hätte ich mich dort sicher sofort sehr wohl gefühlt, doch die, die mich angesprochen hatten, berichteten von bestimmten Problemen, so dass ich besonders wachsam auf Unstimmigkeiten und Brüche im schönen Bild achtete.  

Bei einem Betrieb, der sich u.a. mit erneuerbaren Energien beschäftigt, wurde ich vom dortigen Betriebsrat gerufen. Gleich nach Betreten des Gebäudes wurde ich auf dem Flur von einer Mitarbeiterin mit einem solch vertraut-fröhlichen „Hallo“ begrüßt, als würden wir uns schon jahrelang kennen und wären beste Freunde. Alle Mitarbeiter der unteren und mittleren Hierarchieebenen, die mir begegneten, führten diesen besonderen Ton. Anders verhielten sich Personalchef und Betriebsleiter, die sich professionell-reserviert verhielten, im Gespräch jedoch immer wieder betonten, dass hier alle zum Wohle des Unternehmens zusammenarbeiten müssten. Für den Betriebsrat bestand hier das Problem, dass er, wenn er seine Beschlüsse in besonders sachlichem Ton verfasste und sein Mitbestimmungsrecht dazu nutzte, Kritik zu üben, kaum inhaltliche Antworten bekam. Stattdessen wurde seitens des Arbeitgebers über den rüden Ton und das ewige Gemeckere des Betriebsrats geklagt. Der Betriebsrat würde damit den Erfolg des Unternehmens und letztlich Arbeitsplätze gefährden, ob er das denn wolle?!

Offenkundig wurde bewusst vermieden, im Betrieb Klarheit in Form von Regeln, Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten zu schaffen. Beispielhaft nannte der Betriebsrat den Fall eines ausscheidenden Arbeitnehmers, der seine Sachen und Werkzeuge zurückgeben wollte und wo niemand die Verantwortung übernehmen mochte, ihm die vollständige Rückgabe zu bestätigen. Offenbar hatten die Mitarbeiter schlechte Erfahrungen gemacht, wenn sie mit bestem Gewissen für sie bisher unsichtbare Grenzen überschritten hatten und dafür Konsequenzen zu tragen hatten. Resultat war, dass aus Angst nicht einmal die einfachsten und selbstverständlichsten Dinge gewagt wurden.

In einem anderen Betrieb aus der Beratungsbranche teilte eine Mitarbeiterin dem Arbeitgeber mit, dass sie kündigen wolle. Hintergrund war ein für sie unerträglicher Konflikt mit ihrem Vorgesetzten. Obwohl die Geschäftsleitung explizit besonderen Wert auf ein familiäres Arbeitsklima legt (welches auch gelebt wird), kam dieser Schritt für den Vorgesetzten und die Geschäftsleitung völlig überraschend. Zwar war bekannt, dass es dort Probleme gab, aber die Tragweite und die zwischenzeitliche Entwicklung hatten nur die engsten Vertrauten der Mitarbeiterin mitbekommen. Die Signale der Mitarbeiterin wurden vom Vorgesetzten ausgeblendet, worauf diese irgendwann hilflos resignierte. Im Rahmen einer Mediation wurde dann deutlich, dass es auch für den Vorgesetzten keinen Raum gab, in dem er sein persönliches (Arbeits-) Befinden wirksam zu Gehör bringen konnte. Dieser Umgang prägte dann auch sein Verhalten gegenüber seinen Mitarbeitern. Nachdem eine weitere Mitarbeiterin froh war, sich in Elternzeit „verabschieden“ zu können, hat sich der Vorgesetzte mittlerweile selbst wegbeworben.

Im Bereich der sozialen Berufe fällt mir immer wieder auf, dass die Beteiligten zwar offen oder hinter vorgehaltener Hand heftig über die Situation klagen (meistens sehr zu Recht), jedoch dann, wenn ich mit ihnen über Veränderungs- und Lösungsmöglichkeiten sprechen will, einem stringenten Gespräch darüber mit Gegenwehr, Wiederholungen und Nebenschauplätzen ausweichen. Besonders erschütternd ist es, wenn auf meine Frage, was sie sich denn für sich wünschten, entweder gar nichts kommt oder die vorsichtig artikulierten Wünsche im gleichen Atemzug relativiert werden: „Aber das geht ja nicht.“, „Das mag mein/unser Chef aber gar nicht gern hören.“, „Aber wir müssen vorrangig an unsere Klienten/Patienten denken.“ usw. Der hohe moralische Anspruch an die Tätigkeit verhindert meist erfolgreich, dass die Mitarbeiter ein klares „Ich“ zu sagen wagen. Nicht zuletzt die Appelle der Vorgesetzten, die wegen des „hohen Auftrags“ besonderen Einsatz und Idealismus verlangen, sorgen dafür, dass jeder, der sich auch nur ansatzweise für seine Belange einzusetzen wagt, sofort im Rahmen der sozialen Kontrolle als unsozialer Egoist gebrandmarkt wird. Eine lebendige Feedback-Kultur mit reger Bottom-up-Kommunikation wird so schon im Keim erstickt, die tatsächlichen Konflikte und Probleme werden zuerst verdrängt und dann, wenn der Druck zu groß wird, auf moralisch weniger belastete Felder verlagert. Diese Stellvertreterkonflikte lösen nicht nur nicht das Ausgangsproblem, sondern schwächen die Organisation zusätzlich durch hochemotionalisierte interpersonale Konflikte und massive Gesundheitsbeeinträchtigungen der Beteiligten. Die bereits 1977 von Wolfgang Schmidtbauer beschriebenen „hilflosen Helfer“ scheinen auch im 21. Jahrhundert noch wenig dem drohenden Burn-out-Syndrom entgegenzusetzen haben.

 

Die bespielhaft beschriebenen Kulturen, die sich nach außen als besonders familiär-harmonische Einheiten darstellen, weisen kommunikatorische Gemeinsamkeiten auf:

In der Kommunikation wird stark auf Form und Ton geachtet, niemand soll sich durch Wortwahl, Stimmlage und auch Inhalt schlecht fühlen müssen. Wird Feedback oder Kritik mit deutlichen und klaren Worten und mindestens mit einer gewissen Bestimmtheit geäußert, wird die Äußerung mit Hinweis auf die verfehlte Form zurückgewiesen. Äußert ein Beteiligter Ärger und Wut gar ohne sozialen Filter, muss er deswegen mit erheblicher Abwehr und Konsequenzen rechnen.

Eine Kuschelkultur ist somit eine Angst-Kultur der Empfängerseite. Diese hat aus ihrer eigenen Not mit ihrem individuellen Umgang mit starken Emotionen eine Tugend gemacht und dafür gesorgt, dass sie weiterhin in ihrer sozialen Komfortzone verweilen kann. Aus Angst vor der Überflutung durch die starken Emotionen der anderen werden restriktive Verhaltensregeln aufgestellt, die im krassen Gegensatz zum locker-familiären Habitus stehen. Diese Regeln werden wie so viele kulturelle Regeln selten expliziert, geschweige denn von allen Beteiligten gemeinsam entwickelt und verabschiedet. Stattdessen führt die Impliziertheit zu vielen Unklarheiten und damit zu weitgehenden Verunsicherungen. Der ständige Rückgriff auf moralisierende Totschlagargumente, die nur pseudohaft einem rationalen und konstruktiven Gespräch das Wort reden, erzeugen bei den Mitarbeitern zunächst Bedämpfung und am Ende schlichte Resignation mit all ihren Folgen.

In einer solchen Kultur gehen wertvolle Informationen verloren und es entstehen Konflikte, deren eigentliche Ursachen nur schwer zu identifizieren sind. Motivation und Leistungsbereitschaft sinken beträchtlich, entsprechende Appelle des Arbeitgebers verhallen nicht nur, sondern führen als Bestätigung der Sichtweise der Arbeitnehmer zu einem weiteren Absinken. Die Divergenz zwischen äußerem Anschein mit seinen inneren Regeln und dem tagtäglich erlebten Mangel an Offenheit, Zuhören und Wertschätzung ist für alle offenkundig und führt zu einer Kultur der Falschheit, an deren Oberfläche kratzend schon eine kleinere Krise einen ganzen Sumpf aus ungelösten Problemen offenbahrt. Daher muss, je länger eine solche Kultur besteht, zwingend bei allen Krisen und Problemen eine (mit-)ursächliche Verbindung zu dieser vehement verneint werden, zum Teil sogar von den sich beklagenden Mitarbeitern. Eine Veränderung von innen heraus erscheint damit fast aussichtslos.

Es ist daher schon sehr früh dem Postulat der „konstruktiven Kritik“ und der „sachlichen Gesprächsführung“ eine Absage zu erteilen. Die in unserem Kulturkreis bei hitzigen Debatten oder emotionalen Beiträgen reflexhaft vorgetragene Forderung, man möge doch bitte wieder zur Sache kommen bzw. sich um eine sachliche Diskussion bemühen, bedämpft den Betroffenen insgesamt, da dieser die nun einmal vorhandene emotionale Energie nicht abführen kann und sich mit großer psychischer Kraftanstrengung um eine einschränkende Kontrolle seiner Affekte bemühen muss. Nicht nur aus der Sicht eines Mediators ist eine solche Aufforderung fatal, da die hinter dem Konflikt liegenden Emotionen nicht mehr der lösungsorientierten Bearbeitung zugänglich sind und wichtige Informationen im Filter von Sachlichkeit und Contenance hängen bleiben. Für einen Betrieb kann es von erheblicher Bedeutung sein, wenn sich seine Führungskräfte aus Gründen der leichteren Handhabbarkeit von oftmals entscheidenden Informationen abschneiden. Im schlimmsten Falle kommt es zu einer Ja-Sager- oder lieber-die-Klappe-halten-Kultur.

Nicht erst sein Schulz v. Thun wissen wir, dass die Botschaft vom Empfänger gemacht wird. Insofern ist es eigentlich verwunderlich, dass sich so viele Kommunikationstrainings vorrangig mit der Senderebene beschäftigen. Dort werden vielfach Techniken gelehrt, von denen man hofft, dass durch sie der Empfänger dazu gebracht wird, den Sender in dessen Sinne zu verstehen und das Gesagte anzunehmen. Im Grunde handelt es sich hier um bewusste Manipulation, die der Empfänger meist leicht entdeckt, denn wie sollte ein neues Kommunikationsverhalten nach wenigen Tagen des Trainings zur eigenen Haut werden? Der Mangel an echter Verinnerlichung wird als Unstimmigkeit im Ausdruck und fehlende Authentizität wahrgenommen, es entsteht der Eindruck, dass der Sender etwas hinter dieser Fassade verbirgt (nämlich sein wahres Kommunikationsverhalten) und der Empfänger wird automatisch misstrauisch und wappnet sich gegen mögliche Angriffe. Das für das menschliche Miteinander so wichtige Vertrauen erleidet erheblichen Schaden, wenn der Empfänger seine Befürchtungen dann meist bestätigt sieht.

Es muss also darum gehen, eine Kommunikations- und Betriebskultur zu entwickelt, die das Mitteilungsbedürfnis der Mitarbeiter nicht bedämpft, sondern sie zu unmittelbarer Artikulation ihrer Gedanken und Empfindungen auffordert. Die Attraktivität einer vollumfänglichen Kommunikation kann durch Zugewinn an Information, Sicherheit durch Authentizität, Kreativität, Motivation, Überlebensfähigkeit der gesamten Organisation und Wertschätzung des Einzelnen verdeutlicht werden. Dafür ist es erforderlich, dass nicht nur das „Wie sage ich es?“ der Sender, sondern auch das „Wie höre ich es?“ der Empfänger entwickelt wird. Alle Beteiligten müssen darin gestärkt werden, auch unbequeme und schwierige Beiträge auszuhalten und sie als eine willkommene Möglichkeit zur Verringerung ihres blinden Flecks zu begreifen. Dazu sollten sie sich ihrer eigenen Wahrnehmungsmuster, ihrer Hörgewohnheiten und roten Knöpfe, ihrer Glaubenssätze und Denkregeln bewusst werden. Und sie müssen erfahren, dass sie sich vom Problemsystem nicht anstecken lassen müssen, dass man emotionale Ausbrüche „überleben“ kann und dass sich eine vorübergehende Lösungslosigkeit eigentlich ganz gut aushalten lässt.

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