Arbeitszeitbetrug von Arbeitnehmern zu eigenen Lasten

Der Discounter Lidl glänzte in der Vergangenheit immer mal wieder durch Negativschlagzeilen. Die Skandale um die Behandlung der Mitarbeiter brachten so große Imageschäden, dass der Konzern Besserung geloben musste.  

Am vorvergangenen Montag (9.1.) beleuchtete der „Lidl-Check“ der ARD auch die veränderten Arbeitsbedingungen. Die vor der Kamera interviewten Arbeitnehmer zeichneten ein insgesamt positives Bild, auch was den Umgang mit dem häufig streitigen Thema Arbeitszeit anbetrifft. Lidl hatte eine elektronische Arbeitszeiterfassung eingeführt, um den fairen und gesetzestreuen Umgang mit den Arbeitszeiten der Arbeitnehmer dokumentieren zu können.

Bei intensiverem Nachhaken kamen den Reportern jedoch Zweifel daran, dass die ausgewiesenen Zahlen den tatsächlichen Arbeitszeiten entsprechen. Ein Angestellter, der anonym bleiben wollte, berichtete nämlich davon, dass es durchaus üblich sei, sich zum dienstplanmäßigen Ende der Arbeitszeit am Ausgang vom System abzumelden und dann in den Laden zurückzukehren, um seine Arbeit zu Ende zu bringen.

Selbstverständlich distanzierte sich Lidl von diesen Praktiken.

Wir hören seit Jahren immer wieder davon, dass Arbeitnehmer umsonst arbeiten, sei es, dass sie länger als im Dienstplan vorgesehen (und auch oftmals über 10 Stunden werktäglich) arbeiten, ohne diese Zeiten nachtragen zu lassen, sei es, dass sie sich Arbeit mit nach Hause und ins Wochenende nehmen, ohne entsprechende Stunden dafür einzutragen.

Erstaunlicherweise findet diese Form des Arbeitszeitbetruges und oft gleich auch Gesetzes-, Tarifvertrags- und Mitbestimmungsverstoßes kaum Erwähnung in der Rechtsprechung, stattdessen finden sich etliche Urteile gegen Arbeitnehmer, die sich mehr Stunden als tatsächlich gearbeitet aufgeschrieben haben.

Angenommen, unsere Beobachtung stimmt: Läuft es hier tatsächlich nach dem Motto „Wo kein Kläger, da kein Richter“? Sind Arbeitgeber tatsächlich eher bereit, Betrug und Gesetzesverstöße hinzunehmen, so lange es zu ihren Gunsten läuft? Oder sind sie auf diesem Auge tatsächlich so blind, wie ihre erstaunten Reaktionen einen glauben machen wollen, wenn der Betriebsrat auf die Missstände hinweist?

Wie dem auch sei, entscheidend ist letztlich nur, dass es offenbar in vielen Betrieben ein Klima und eine Kultur gibt, die die Arbeitnehmer dazu veranlasst, sich nach landläufigen Kriterien selbst zu schaden. Es stellt sich also die Frage, was ein solches Verhalten für die Arbeitnehmer attraktiv macht, denn wenn es nicht auf irgendeine Weise attraktiv für sie wäre, würden sie es nicht tun!

Meine These: schiere Angst vor Nachteilen. Es geht also nicht um echte Vorteile, sondern um die Abwesenheit von Nachteilen. Die damit verbundene Kultur ist keine progressive Innovationskultur, sondern eine regressive Vermeidungskultur. Da Kulturen nicht aus heiterem Himmel entstehen, muss davon ausgegangen werden, dass über einen längeren Zeitraum Äußerungen durch das Führungspersonal getätigt worden sind, die für die Arbeitnehmer Androhungscharakter haben, z.B. wie: „Wenn Du darauf bestehst, nur Deine vertragliche Arbeitszeit zu arbeiten, dann…“ u.ä.. Dabei ist kaum vorstellbar, dass der Arbeitgeber solche Äußerungen nicht zumindest geduldet hat.

Die in unserer Gesellschaft weit verbreitete Angst vor Arbeitsplatzverlust sorgt mittlerweile dafür, dass solche Äußerungen nicht nur im Niedriglohnbereich auf „fruchtbaren Boden“ fallen. Verstärkend tritt die gestiegene Bedeutung der Arbeit für das Selbstwertgefühl der Menschen hinzu. Systemisch betrachtet wundert es daher nicht, wenn allenthalben die schleppende Inlandsnachfrage aufgrund des getrübten Konsumklimas bzw. des berühmten „Angstsparens“ beklagt werden muss.

Ausgehend von der mittlerweile durch die Hirnforschung bestätigten Weisheit „Angst macht dumm“, stellt sich die Frage, ob wir es für einen rohstoffarmen Standort wie Deutschland noch länger verantworten können, wenn sich Arbeitnehmer aus Angst bereits selbst schädigen. Die Schädigung durch steigende Gesundheitskosten aufgrund der zunehmenden psychischen Erkrankungen mag schon jetzt für jeden erkennbar sein, der Mangel an Innovationen wird dagegen zu einem schleichenden Niedergang unserer Wirtschaft führen, wenn wir nicht endlich den für Innovation bzw. Kreativität notwendigen angstfreien Raum schaffen.

Es soll dabei gar nicht darum gehen, die Augen vor den teilweise tatsächlich angstmachenden Realitäten zu verschließen.

Aber wie wäre es, wenn man Motivation anstelle durch ein „Geschäft mit der Angst“ mal durch Fokussierung auf die Aufgabe und Bereitstellung der zur Bewältigung erforderlichen Ressourcen erzeugte? Man bekäme echte Loyalität, Identifikation mit Unternehmen und Aufgabe, Teamgeist und Leistungswille. Alles bares Geld wert.

Wie wäre es, wenn die Arbeitsvertragsarteien ihre Interessen und Bedürfnisse offenlegen und sich ohne Rückgriff auf Macht- und Rechtspositionen um eine dauerhaft tragfähige Befriedigung der Interessen bemühen würden? Man bekäme Vertrauen, besseren Umgang mit Unterschieden, gegenseitigen Respekt und Fairness und hohes Commitment. Hier entfallen insbesondere die offenen und verdeckten Konfliktkosten.

Wie wäre es, wenn auf breiter Basis verstanden werden würde, dass unter dem Begriff der Interdependenz eigenes Verhalten immer eine Wirkung entfaltet und durch das System immer auch zurückwirkt? Man bekäme Verantwortungsbewusstsein, Rücksicht, Verständnis und werteorientiertes Handeln. Die leichtfertige Schädigung von Einzelnen, Betrieben und der Errungenschaften unserer Gesellschaft würde schwinden.

Ein wichtiges Ziel wären kräftige, innovative und kooperative Arbeitgeber und Arbeitnehmer, die sich direkt oder über ihre jeweiligen Interessenvertretungen austauschen. Dafür müssten die Beteiligten natürlich erstmal Unterschiede und vorübergehende Lösungslosigkeit aushalten lernen und ihr menschliches Streben nach Bestätigung und Ähnlichkeit als hinderlich für den Lösungsfindungsprozess verstehen können. Und wenn wir gerade dabei sind: Ein Verzicht auf die Haltung, man wäre im Besitze der letztgültigen Wahrheit und könne für alle definieren, was richtig und was falsch sei, würde so manchen Dialog erst zu einem solchen machen.

Dies wäre in meinen Augen eine deutlich bessere Voraussetzung dafür, dass unser Gemeinwesen die anstehenden Herausforderungen erfolgreich bewältigt.

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