Was für eine Wahlzeit! Erst wird mit Donald Trump ein echter Spalter Präsident der USA, dann erstarkt die für ihre Klientel-Politik berüchtigte FDP gegen alle Erwartung wieder, jetzt wird die AfD von einer Welle nationalistischer Hasskommentare im Netz voraussichtlich in den Bundestag gespült – und im nächsten Frühjahr sind auch noch Betriebsratswahlen. Höchste Zeit, seinen Hintern hoch zu kriegen.
Im Frühjahr hatten die deutschen Parteien einen überraschenden Anstieg ihrer Mitgliederzahlen zu verzeichnen. Auch mich hat das Erschrecken über die Wahl Donald Trumps dazu bewogen, ganz entgegen der familiären Tradition in eine Partei einzutreten. Es reichte nicht mehr aus, die eigenen demokratischen Ansichten im Privaten zu vertreten und im Beruf für Nachdenken, eigene Meinung und Kooperation zu werben. Die US-Wahl machte auch deutlich, dass nationalistische Autokraten jetzt nicht nur in der sicher geglaubten amerikanischen Demokratie an der Macht waren, sondern auch schon längst vor unserer eigenen Haustür um uns herum.
Jetzt im Wahlkampf sprechen wir verstärkt mit unseren Nachbarn in den Stadtteilen. Wir erhalten viel Zuspruch und Ermutigung, lernen viel, erfahren aber auch Etliches an offener Ablehnung. Spannend wird es, wenn es uns gelingt, mit diesen Menschen trotz ihrer ablehnenden Haltung ins Gespräch zu kommen.
Zwei Gefühle sind dabei vorherrschend: Enttäuschung, weil individuelle Anliegen nicht zur Zufriedenheit erledigt wurden, und Ohnmachts- und Wutgefühle genereller Art, weil sich die Politik zu weit vom Bürger entfernt hat. Da stehen wir dann oftmals ohnmächtig da, denn eigentlich müssten wir diesen Bürgern sagen, dass wie leider nicht die Gedanken eines jeden Bürgers lesen können und auch nicht ein Dienstleister sind, über den man sich bei Schlechtleistung in den einschlägigen Foren aufregen kann.
Viele reagieren ziemlich erstaunt, wenn sie erfahren, dass man seine Abgeordneten auch mit den vermeintlich kleinsten Themen ansprechen kann und dass die dann etwas für einen tun. Viele wissen nicht, dass die Abgeordneten dafür da sind und dass sie sich freuen, wenn ordentlich viele Leute in ihre Sprechstunden kommen oder ihnen Briefe und Mails schreiben. Die wollen ja auch was unmittelbar Sinnvolles tun können.
Viele reagieren erstaunt bis ablehnend, wenn man sie einlädt, sich doch auf die eine oder andere Weise, z.B. in einer Partei ihrer Wahl, auch für ihre ganz eigenen Anliegen zu engagieren. Sie müssen erst mühsam verstehen, dass wir alle „die Gesellschaft“ sind, in und von der wir leben, deren Segnungen wir jeden Tag ohne nachzudenken, wo und wie die Straßen, der Strom, die Youtube-Videos eigentlich herkommen, nutzen.
Es ist oft nur schwer zu vermitteln, dass es nicht nur eine Frage des demokratischen Selbstverständnisses, sondern auch und gerade eine der Selbstfürsorge ist, wenn wir selbst uns um die Gestaltung unserer Lebensbedingungen und -umgebungen kümmern. Denn wenn wir es nicht selbst tun, dann tut es eben ein anderer – und es gibt keine Gewissheit, dass dieser es in unserem Sinne tun wird.
Viele, die jetzt Protest wählen wollen, kapieren nicht, welche Aussage sie damit über sich selbst treffen. Wer sich nicht öffnen, sondern zurückziehen und abschotten will, wer einfache Parolen statt komplexer Lösungsentwicklung bevorzugt, wer gern auf andere zeigt, um denen die Schuld zu geben, anstatt sich auf seine eigene Wirksamkeit zu besinnen, schreibt sich selbst das Wort „Loser“ auf die Stirn. Sie kriegen es eben nicht auf den Kreis, mit den Anforderungen des modernen Lebens und einer pluralistischen Gesellschaft, also schlichtweg Verschiedenheit umzugehen. Dass denen eine solche Selbstaussage nicht peinlich ist, ist schon verwunderlich.
Die demokratischen, liberal-gemäßigten Kräfte in vielen Ländern haben gesehen, was passiert, wenn sie radikale Kräfte unterschätzen oder einfach nicht ihren Hintern hochkriegen und zumindest zur Wahl gehen. Die kindischen Machttypen, die aus diesen Wahlen leider immer häufiger als Sieger hervorgehen, stellen mit ihrer extrem leicht kränkbaren selbstsüchtigen Eitelkeit eine enorme Gefahr für den Zusammenhalt von Gesellschaften und damit für den Weltfrieden dar.
Aber es fängt im Kleinen schon an: In vielen Familien, Vereinen, Parteien und nicht zuletzt Betrieben gibt es auch solche Typen in hohen Positionen, die nur an sich denken und nur ganz schlecht mit dem Denken und den Bedürfnissen anderer Menschen umgehen können. Fehlt es da an einem Regulativ, sind Fehler, gravierende Nachteile für den Einzelnen und letztlich schwere Auseinandersetzungen vorprogrammiert. Wer wüsste das besser als wir Deutschen?
Wer das Buch „Gegen Wahlen“ gelesen hat, wird vielleicht ebenfalls erstaunt über die Prinzipien der frühen griechischen Demokratien gewesen sein. Die haben nämlich, um die Legitimation dieses Gesellschaftsprinzips zu erhalten, gar nicht so sehr auf Wahlen gesetzt (nur wenige Posten wurden durch Wahlen besetzt), sondern auf das Engagement für die Gesellschaft eines jeden Einzelnen. Da viele Positionen in recht kurzen Abständen per Losverfahren besetzt wurden, konnte jeder Bürger damit rechnen, mal „ran zu dürfen“.
Nun mag man zu Recht einwenden, dass dies in überschaubaren Stadtstaaten wohl funktionieren möge, aber keinesfalls in so großen Gesellschaften wie den heutigen. Dieses Argument springt jedoch zu kurz, wenn es den Grundgedanken, nämlich das gestaltende Engagement des Einzelnen für die Gesellschaft, in der er lebt, außer Acht lässt. Denn dieser Gedanke funktioniert ebenso im Großen wie im Kleinen, in einem Staat, im Bezirk, in der Straße und auch im Betrieb.
Die staatliche wie betriebliche Gesellschaft braucht die Gedanken, Meinungen, aber auch tatkräftigen Handlungen jedes Einzelnen, denn sonst handeln nur die wenigen, die ihren Hintern hochbekommen haben, weil sie sich vermutlich (wie jeder!) Vorteile davon versprechen.
Für die Bundestagswahl ist der Zug wohl schon abgefahren, aber wenn Sie wählen gegangen sind, können Sie in der Zeit danach, wenn sich die Parteien wieder zurechtruckeln müssen, ideal einsteigen und sich engagieren.
In Bezug auf die Betriebsratswahl im nächsten Jahr können Sie schon jetzt anfangen, Ihren bestehenden Betriebsrat mit Fragen zu löchern und mit Ihren Anliegen und Vorschlägen zu überschütten. Und die Zeit reicht allemal, um Ihre Kandidatur für ein Betriebsratsmandat vorzubereiten. Es ist ganz einfach, ein demokratisches Grundrecht wahrzunehmen. Sie selbst und Ihre Anliegen sind es wert.
Oder, um es mit den Worten meines alten Klassenlehrers zu sagen: „Und immer dran denken: Wer seinen Hintern nicht bewegt, verliert die Lizenz zum Motzen.“