Ist der Mindestlohn der richtige Weg zum guten Ziel?

Politiker besitzen scheinbar die Fähigkeit, auch wider besseren Wissens an rechtlich unhaltbaren Vorschlägen festzuhalten. Dass dieses Problem nicht nur auf ein südliches Bundesland beschränkt ist, zeigt die auf breiter politischer Basis ohne jegliche Trübung geführte Debatte um den Mindestlohn. Das gute Ziel, dass Menschen bei Vollzeitbeschäftigung auch ohne Zuschüsse von ihrem Entgelt leben können müssen, scheint jedoch mit dem gesetzlichen Mindestlohn nicht in verfassungskonformer Weise zu erreichen zu sein, wie eine Diskussionsveranstaltung in der Bucerius Law School in Hamburg gezeigt hat.  

Prof. Dr. Georg Caspers, Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht und Arbeitsrecht in der Universität Erlangen-Nürnberg, stellte dazu folgende verfassungsrechtliche Leitsätze auf:

  1. Führt der Staat Mindestlöhne ein, muss er vor allem auf die von Art. 9 Abs. 3 GG ge­schützte Tarifautonomie Rücksicht nehmen. Diese fordert einen weitgehenden Ausschluss staatlicher Einflussnahme, was in besonderem Maße für die Bestimmung des Arbeitsent­gelts gilt. Zwar ist auch die tarifautonome Festlegung des Arbeitsentgelts vor staatlichen Eingriffen nicht sakrosankt; der Staat muss sich aber besondere Zurückhaltung auferlegen.
  2. Mindestlöhne können nicht nur in bestehende Entgelttarifverträge eingreifen. Ein Eingriff in die Tarifautonomie ist auch darin zu sehen, dass der Staat verbindliche Vorgaben schafft, die den Spielraum der Tarifvertragsparteien einschränken und ihre Lohnfindung beeinflus­sen.
  3. Die Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums bei einer Vollzeittätigkeit ver­bunden mit dem Ziel, die Inanspruchnahme von Lohnsubventionen im Wege der Auf­stockung durch Arbeitslosengeld II zu begrenzen und dadurch Sozialleistungen zu reduzie­ren, stellt einen legitimen Zweck dar, der den mit dem staatlichen Mindestlohn verbundenen Eingriff in die Tarifautonomie rechtfertigen kann.
  4. Keine legitimen Zwecke für einen Mindestlohn sind die Regelung einer „angemessenen Entlohnung“ der Arbeitnehmer für die von ihnen ausgeübte Tätigkeit oder der Schutz der Ordnungsfunktion von Tarifverträgen oder eines bestehenden Tariflohnniveaus.
  5. Bei der Festlegung des Mindestlohns ist der Staat einer strengen Bindung an den Verhält­nismäßigkeitsgrundsatz unterworfen. Ein Mindestlohn kann zwar als durchaus geeignet und erforderlich angesehen werden, das Existenzminimum zu sichern und dem Staat von Leis­tungen der sozialen Grundsicherung zu entlasten. Auch darf der Mindestlohn über die ge­setzliche Grundsicherung hinausgehen, um einen Arbeitsanreiz zu setzen. Erheblich mehr als der Betrag der gesetzlichen Grundsicherung darf aber nicht festgesetzt werden.
  6. Bei den von den politischen Parteien vorgeschlagenen Mindestlohnmodellen ist zunächst zu fragen, ob sie in die Tarifautonomie eingreifen, insbesondere autonome Tarifverträge ver­drängen. Bei den Vorschlägen für einen allgemeinen, auch gegenüber Tarifverträgen zwin­gend ausgestalteten Mindestlohn ist das Fall. Bei der zwingenden Tariflohnerstreckung nach dem AEntG kommt es dagegen darauf an, ob es konkurrierende Tarifverträge anderer Tarifvertragsparteien gibt. Die Verfassungsmäßigkeit im Einzelfall hängt davon ab, ob die Höhe des Mindestlohns den genannten Vorgaben gerecht wird.

Vor dem hier skizzierten Verfassungshintergrund erscheint es nicht nur erstaunlich, dass die Parteien des linken Spektrums an ihren Lösungsvorschlägen festhalten und gleichzeitig Vorwürfe der fehlenden Europarechtskonformität in Richtung CSU erheben. Entweder sind sie bei ihren eigenen Vorschlägen rechtlich nicht gut beraten oder zeigen sich ebenfalls als Meister der Verdrängung.

Am meisten erstaunt, dass der Mindestlohn sogar von den Gewerkschaften weitgehend einhellig begrüßt wird. Der Eingriff in ihre Tarifautonomie durch den gesetzlichen Mindestlohn, wie oben dargestellt, scheint sie nicht sonderlich zu stören, ja noch nicht einmal, dass sie dadurch in den betroffenen Bereichen der Wirtschaft ihre Existenzgrundlage und -berechtigung verlören, denn für niemanden würde es dann noch notwendig erscheinen, Mitglied einer Gewerkschaft zu sein, wenn er doch schon per Gesetz mehr Geld bekommt als zuvor z.T. unter Mitwirkung der Gewerkschaften (siehe z.B. ostdeutsche Tarifverträge für das Bewachungsgewerbe).

Die positive Haltung der Gewerkschaften zum Mindestlohn kann eigentlich nur auf zweierlei Weise erklärt werden: Der Aufwand, im Niedriglohnsektor Tarifverträge zu verhandeln und durchzusetzen, ist deutlich höher als die schon aufgrund der niedrigen Löhne mikrigen Mitgliedsbeiträge von dort. Dies macht es umso attraktiver daran zu denken, dass nach Einführung des Mindestlohnes Rufe lauter und Rechtfertigungen leichter werden, in den vom Lohnniveau darüberliegenden Branchen höhere Abschlüsse zu erzielen. Man scheint hier auf einen Dominoeffekt zu setzen.

So begrüßenswert wir das angestrebte Ziel finden, so stellen wir uns doch die Frage, welche mittel- und langfristigen Effekte eine solche Maßnahme hätte und was dann mit dem durch die Maßnahme zunächst erreichten Vorteil passieren würde.

Wenn es stimmt, wie in der Diskussion genannt, dass von den derzeit ca. 2,8 Millionen Aufstockern nur ca. 300.000 als Vollzeitkräfte in den Genuss des Mindestlohnes kämen, wären die Effekte eher lokal zu sehen: die Gewinne der wenigen betroffenen Unternehmen wären reduziert, Investitionen und Ausschüttungen entsprechend geringer, der Staat wäre etwas entlastet.

Nimmt man aber den angesprochenen Dominoeffekt an, der zu einer allgemeinen Erhöhung des Lohniveaus führt, so wäre bei den Bürgern insgesamt mehr Geld vorhanden. Darauf würde unweigerlich der Markt mit höheren Preisen reagieren, um das gestiegene Kaufkraftvolumen abzuschöpfen. Verlierer dieser Entwicklung wären die Hartz IV-Empfänger, denn sie können sich die nun teureren Waren noch schlechter leisten. Also wäre der Staat gezwungen, die Regelsätze zu erhöhen. Ob diese Erhöhung in der Summe geringer ausfällt, als durch den Wegfall der Aufstockungen eingespart wird, erscheint mehr als fraglich. Da hilft es auch nicht, mögliche höhere Steuereinnahmen anzuführen, denn dies geht nur so lange gut, wie nicht wieder die Arbeitslosenzahlen steigen und damit bei sinkenden Steuereinnahmen Sozialausgaben ebenfalls steigen.

Fazit: Im schlimmsten Fall führt der gesetzliche Mindestlohn entweder zu einer weiteren Verschlechterung für die Nicht-Arbeit-Habenden (mit einer Verschärfung der mit Arbeitslosigkeit einhergehenden sozialen und gesellschaftlichen Probleme) oder aber der Staat muss noch tiefer in die Tasche greifen, um die Verluste an anderer Stelle wieder auszugleichen.

Vielleicht ist es daher zu kurz gesprungen, wenn man das Ziel mit einer radikalen Bewegung der unmittelbarsten Stellschraube zu erreichen versucht. Vielleicht müssen wir erkennen, dass unsere Gesellschaft noch nicht dazu bereit ist, für bestimmte Produkte und Dienstleistungen die wahren Kosten, insbesondere die für menschenwürdige Bezahlung und Behandlung, zu zahlen. Aber vielleicht ist unsere Gesellschaft langsam bereit anzuerkennen, dass es das eine nicht ohne das andere gibt, billige Produkte und Dienstleistungen eben nicht ohne unerwünschte Nebenwirkungen zu haben sind.

Insofern sind Transferleistungen vielleicht gar nicht mal das insgesamt Schlimmste? Schließlich leisten wir uns immer noch einen hochgradig subventionierten Agrarsektor, auch wenn es hier nicht mehr so zugeht wie in den 90er Jahren. Hier schien und scheint eine massive Unterstützung von der Gesellschaft weitgehend akzeptiert und gewollt, jedenfalls eher, als 20 Cent pro Liter Milch mehr zu bezahlen. Vielleicht sollten wir akzeptieren, dass wir dieses Prinzip ohne weiteres Murren auch auf andere Branchen ausdehnen und damit aufhören müssen, die Betroffenen mit dem Etikett der „demütigenden Beschäftigungsverhältnisse“ zu belegen. Dies haben wir schließlich auch nicht bei den Bauern getan, die sicher auch hart ums Überleben gekämpft haben und weiter kämpfen und ohne die Subventionen sicher in großer Zahl nicht wirtschaftlich überleben können.

Ein Gedanke zu “Ist der Mindestlohn der richtige Weg zum guten Ziel?

  1. Sehr geehrte Damen und Herren,

    Danke für den interessanten Beitrag. Meiner Beobachtung nach führt der Mindestlohn
    zur Müllhalde der Inkompetenz. Sich auf einen Mindestlohn zu verlassen stoppt die Lebensgeister und die Anstrengungen etwas zu leisten.
    Ich mag die Idee, wie es in den USA läuft: Wenn ich nicht arbeite, dann kann ich die Miete nicht bezahlen, da muss ich rennen und was tun, um gut zu leben.

    Beste Grüsse
    Heimo B.

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