Zufriedenheitsfaktor Zeit

Seit Jahren führen sie die Hitlisten der Neujahrswünsche an: Mehr Zeit für mich, mehr Zeit für die Familie, weniger arbeiten usw. Keinesfalls findet man den besseren Computer, das größere Auto, das Eigenheim, den Lottogewinn oder den nächsten Karriereschritt auf den vorderen Plätzen.

Als unvoreingenommener Beobachter könnte man sich darüber freuen, dass so wenig Materialismus vorherrscht und dass diese Wünsche doch recht leicht und meist aus eigener Kraft zu erfüllen sind. Müssten da nicht alsbald diese Wünsche von den vorderen Plätzen verschwinden, einfach, weil sie erfüllt sind und man sich jetzt wieder den anderen Wünschen zuwenden kann?

Stattdessen löst Burn-Out neben der Depression Herzinfarkt und Skeletterkrankungen als führende arbeitsbezogene Zivilisationserkrankung ab, dümpelt die Teilzeitquote vor sich hin, stagniert die Quote von Männern in Elternzeit auf unterstem Niveau.

Dabei ist der gesetzliche Anspruch auf Teilzeit und Elternzeit fast allen Arbeitnehmern bekannt!

Kürzlich war ich auf einem mehrtägigen Workshop zum Thema „Muße, Innehalten, Achtsamkeit“. Die dort versammelten Männer blätterten sämtliche Facetten beruflicher und familiärer Belastungen auf und ließen klar erkennen, wie schwer der Weg zur gewünschten Lebensqualität zu gehen ist. Fast neidisch blickten sie auf zwei Männer, die in der Reduktion der Arbeitsbelastung ihr Glück gefunden hatten: der eine arbeitet als Projektmanager in der IT-Branche halbtags und verzückte die Teilnehmer mit der ruhigen Fülle seiner Tage, der andere hat nach langer Drogenabhängigkeit entschieden, nicht den üblichen Vollarbeitsweg zu gehen und stattdessen sein Abitur nachzumachen.

Die unterschiedlichen Reaktionen auf diese Lebensweisen zeigten widerstreitende Gefühle, Sehnsüchte und Glaubenssätze: beglücktes Lächeln, nachdenkliches Brüten, Traurigkeit, innerer Widerstand und Ablehnung sowie offene Herabwürdigung.

Es war ja auch alles vom Angestellten mit 12 Stundentagen über den selbständigen Zahnarzt mit 60-70 Stunden pro Woche bis hin zum Vollzeiter, der seinen Wunsch nach Verringerung um täglich 1 Stunde weder sich noch vermeintlich seinen Vorgesetzten verkaufen konnte, vorhanden. Fast keiner war mit der Arbeitsbelastung zufrieden, viele wollten gerne reduzieren, aber sahen lauter Hinderungsgründe, die sie bisher davon abgehalten hatten, ihrer Unzufriedenheit auch Taten folgen zu lassen.

Warum ist es heute bloß so schwer, weniger zu arbeiten?

Wichtiger Faktor scheinen die dauerhaft repetierten Überzeugungen aus Elternhaus, Politik und Wirtschaft zu sein, dass man Arbeit haben müsse, eine gutbezahlte Arbeit wichtig sei, Karriere ein Muss und alle, die dabei nicht mitspielen wollen oder können, seien Faulpelze, Parasiten und einfach schlechte Menschen.

Wenn Arbeit zu einem Statussymbol geworden ist, so genießt man mit viel Arbeit einen höheren sozialen Status. Wer spät nach Hause kommt und Arbeit mit ins Wochenende nimmt, der zeigt, dass er ein produktiver Teil dieser Gesellschaft, ein Leistungsträger ist. Stress und ständig drohender Burn-Out werden wie schmückende Orden vor sich hergetragen. Woran sollten die anderen schließlich merken, dass man toll, wichtig und leistungsbereit wie –fähig ist, wenn die Qualität der Arbeit und der Ideen nur ein schwierig nach Außen darstellbares Kriterium ist. Überstunden sind objektiv messbar und für alle sicht- und spürbar.

Es ist ein Umdenken erforderlich, dass die durch weniger Arbeit gewonnene Zeit Qualitätszeit ist, die der eigenen Gesundheit und Zufriedenheit, dem jeweiligen sozialen Gefüge und nicht zuletzt dem Arbeitsmarkt zugute kommt. Und was viele vergessen: für die zusätzliche freie Zeit zahlt der Arbeitnehmer den Preis eines verringerten Einkommens. Allein der teilweisen Befreiung vom materiellen Leistungsdruck gebührt Anerkennung.

Das Umdenken kann nicht von den „Anderen“, z.B. den Arbeitgebern oder dem Staat, gefordert werden, sondern muss bei einem selbst anfangen. Dies ist auch der schwierigste Schritt: sich freizumachen vom allgemeinen Konsum- und Wachstumsdruck, den Zugewinn an Zeit höher zu gewichten als die damit einhergehenden materiellen Einschränkungen, es auszuhalten, wenn man der eigenen Angst vor den Lebensrisiken nicht mehr mit noch mehr Gütern, Rücklagen und Versicherungen Herr zu werden versucht.

Vielleicht muss man dafür ein wenig „un-deutsch“ werden: statt auf die Rente zu fiebern, lieber etwas mehr Lebensqualität im Jetzt haben, statt alles dreifach abzusichern, lieber etwas mehr Raum für Überraschungen geben, statt auf Probleme mit immer noch mehr Fleiß und Sparsamkeit zu reagieren, lieber etwas mehr Mut für ungewöhnliche Lösungsansätze gewinnen.

Die Kreativitätsforschung zeigt ganz klar, dass es für neue Ideen Entspannung und nonkonformistisches Denken braucht. Wenn in einem rohstoffarmen Land die Gehirne der Menschen die größte Ressource sind, dann müsste sich die Standortdebatte in Deutschland eigentlich viel mehr um weniger Arbeiten drehen. Welche Ideen, welche Erfindungen verschenken wir eigentlich, weil wir soviel arbeiten?

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